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Taggenaue Schmerzensgeldberechnung als Plausibilitätskontrolle zur Schmerzensgeldberechnung bei schwerwiegenden langjährigen Dauerschäden

Nachtrag (Februar 2022)

Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20 den Ansatz des taggenauen Schmerzensgeldes verworfen und festgestellt, dass das herkömmliche Modell der Schmerzensgeldbemessung beibehalten wird.

Danach ist maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes im Wesentlichen

  • die Schwere der Verletzungen,
  • das durch diese bedingte Leiden,
  • dessen Dauer und
  • das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten.

Das stimmt. Trotzdem halten wir die Dauer der Lebensbeeinträchtigungen für einen Kardinalpunkt der Schmerzensgeldbemessung. Es ergibt unserer Meinung nach durchaus einen erheblichen Unterschied, ob man mit 30 oder 60 Opfer einer Fehlbehandlung oder eines Autounfalls wird. Ein Dreißigjähriger muss bis zu seinem statistischen Lebensende mit 79 (= 17.885 Tage) mit einer Prothese herumlaufen. Ein Sechzigjähriger hat noch 21 Jahre (er wird statistisch 81) vor sich und muss 7.665 Tage leiden. Rein rechnerisch leidet des Junge Mann 57 Prozent mehr. Das kann nicht gleich bewertet werden, das ist unplausibel.

In der Entscheidung geht es um die Bemessung des Schmerzensgeldes nach einem Autounfall. Sie ist aber gleichermaßen für den Bereich der Arzthaftung von Bedeutung. Diese Entscheidung ist für das Personenschadensrecht eine der wichtigsten der letzten Jahre. Sie beleuchtet neben der Schmerzensgeldbemessung noch eine Reihe anderer wichtiger Probleme: Fragen zu Haftungsquote beim Verkehrsunfall, Fragen zur Quote der Gerichts- und Anwaltskosten und die Frage, ob bei einer unangemessenen und zeitlich verzögerten Regulierung der Schmerzensgeldbetrag erhöht werden muss.

1. Der Sachverhalt der Entscheidung und die Verletzungen der Klägerin

Die Klägerin wurde unter nicht aufklärbaren Umständen beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch.

In Folge der Operation erlitt sie einen Hirninfarkt und eine Halbseitenlähmung des Körpers. Sie ist deshalb dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und kann nur noch den rechten Arm und die rechte Hand benutzen. Sie ist zu 100 Prozent schwerbehindert und auf Pflegeleistungen und Hilfsmittel angewiesen.

Das Landgericht Darmstadt hatte 35.000 € Schmerzensgeld für diese Beeinträchtigungen zugesprochen. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat diesen Betrag auf 80.000 € erhöht.

2. Die Haftungsquote bei Kollision zwischen Fußgänger und Pkw

Das Landgericht Darmstadt hat 70.000 € Schmerzensgeld für die Lebensbeeinträchtigungen zugesprochen. Die Klägerin hat aber nach Feststellung des Gerichts die Straße nicht auf dem kürzesten Weg überschritten, weshalb ihr eine Mitschuld an dem Unfall zufällt. Da der Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt werden konnte, sah sich das Gericht nicht in der Lage, eine andere Haftungsquote zu bestimmen, als 50 zu 50. Es hat dann nach dieser Quote den Betrag von 35.000 € ausgerechnet. Das ist richtig für alle anderen Schadensposten (Mehrbedarfschaden, Verdienstausfall und den Haushaltsführungsschaden), jedoch nicht für das Schmerzensgeld.

Das Mitverschulden ist nicht der beherrschende Bemessungsfaktor beim immateriellen Schadensersatz (Schmerzensgeld). Hier schuldet der Schädiger nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 21. April 1970 – VI ZR 13/69) bei einem Mitverschulden von beispielsweise zwei Dritteln nicht zwei Drittel eines angemessenen Schmerzensgeldes, sondern er schuldet Schmerzensgeld, das unter Berücksichtigung der Beteiligungsquote von (2/3) angemessen ist. Das mitwirkende Verschulden des Verletzten ist nur ein zu berücksichtigender Umstand unter vielen bei der Bemessung des Schmerzensgeldes. Deshalb muss das Schmerzensgeld oberhalb der rechnerisch ermittelten Quote bleiben.

Das OLG Frankfurt hat die Problematik erkannt (Rn. 44) und die von ihm ermittelten 160.000 € nicht mathematisch halbiert, sondern nach eigener Aussage alle Umstände abgewogen. Es kam dann aber nach Abwägung aller Umstände 80.000 € heraus, was eigentlich nicht sein kann.

3. Die taggenaue Bemessung des Schmerzensgeldes

Die Idee der taggenauen Schmerzensgeldbemessung ist vor einigen Jahren von zwei außerordentlich versierten Fachanwälten erdacht worden, die ein dickes Buch („Handbuchs Schmerzensgeld“ von Hans Peter Schwintowski, RAe Cordula und Michel Schah Sedi) darüber geschrieben haben. In der Kurzform: die Idee ist, den täglichen Betrag zu ermitteln, den ein Schwergeschädigter für seine Beeinträchtigungen bekommt. Ein Beispiel: aufgrund eines Arztfehlers oder Autounfalls verliert ein 30-jähriger Geschädigter ein Auge. Dafür bekommt er 50.000 € Schmerzensgeld. Nach der aktuellen Sterbetafel hat ein heute 30-ähriger statistisch noch 49 Jahre zu leben. Das sind 17.885 Tage. Pro Tag ergeben sich 2,80 €. Aufgrund der taggenauen Umrechnung des Schmerzensgeldes kann man erkennen, dass dieser immaterielle Ersatz eine Beleidigung des Opfers ist.

Ausführlich wird diese neue Idee in diesem Beitrag dargestellt: Neuer Ansatz zur Bemessung des Schmerzensgeldes: Taggenaue Berechnung.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat in einem Urteil aus dem Jahr 2018 den Ansatz aus dem Buch aufgegriffen und als erstes Gericht in Deutschland Schmerzensgeld taggenau ausgeurteilt: OLG Frankfurt, Urteil v. 18.10.2018 – 22 97/16.

Auch das Landgericht Frankfurt hat in einem Urteil bestimmt, dass das Schmerzensgeld taggenau zu berechnen ist: LG Frankfurt v. 17.7.2019 – 2-24 O 246 /16.

Besprochen haben wir das Urteil hier: Schmerzensgeld ist taggenau zu berechnen.

4. Verteidigung der taggenauen Schmerzensgeldbemessung gegen die Kritiker

Andere Oberlandesgerichte hatten gegen dieses Urteil und die taggenaue Schmerzensgeldbemessung unter anderem eingewandt, dass die Frage der Lebensbeeinträchtigungen und anderer Umstände, nach denen das Schmerzensgeld zu berechnen ist, keine Frage einer Berechnungsmethode, sondern eine vom Richter zu klärende tatsächliche Frage sei.

Das Gericht verteidigt sein erstes Urteil und die taggenaue Schmerzensgeldbemessung als objektives Kriterium hinsichtlich der üblicherweise verwandten Schmerzensgeldtabellen, in denen sich in den seltensten Fällen ein ähnlicher Fall finden lasse. Außerdem seien die Urteile zu ähnlichen Verletzungen von Landstrich zu Landstrich verschieden, was an sich schon eine Ungerechtigkeit darstelle. Zudem werde in den Schmerzensgeldtabellen die Dauer der Auswirkungen von Verletzungen lediglich in kurzen Andeutungen erkennbar, insbesondere stellten sie keine eigene Kategorie der Bemessung dar.

Als Fachanwälte müssen wir sagen: diese Ausführungen haben Hand und Fuß und wir teilen auch die Kritik an der ausschließlichen Heranziehung von Schmerzensgeldtabellen: Kritik Schmerzensgeldtabellen.

5. Taggenaue Berechnung mit neuer modifizierter und vereinfachter Berechnungsmethode

Nach Auffassung des Gerichts führt die buchstabengetreue Anwendung des taggenauen Berechnungssystems zu Beträgen, die zu einer nicht mehr vertretbaren Überhöhung der Schmerzensgeldbeträge führen.

Wir müssen anmerken: Das ist tatsächlich der Fall, wenn es sich um junge Geschädigte mit schweren Verletzungen handelt.

Das Gericht hat deshalb die Prozentzahlen der ursprünglichen Berechnungsmethode herabgesetzt und das System insgesamt vereinfacht.

Das Oberlandesgericht Frankfurt sucht sich dann, was es eigentlich ja gerade nicht will, Präjudize heraus, mit denen es die Höhe eines auszuurteilenden Schmerzensgeldes belegt.

Das Gericht benutzt dann die modifizierte vereinfachte taggenaue Berechnungsmethode als Plausibilitätskontrolle und führt aus:

Für Fälle mit jahrelanger Beeinträchtigung durch Dauerschäden geht der Senat deshalb in Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung zur Vereinfachung von einem Betrag von 150,- € /Tag für den Aufenthalt auf der Intensivstation, 100 €/Tag auf der Normalstation, 60 €/Tag in der Rehabilitationsklinik und 40,- € pro Tag bei 100% GdB aus. Dies entspricht bei einem durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommen im Jahr 2014 (jährlich 36.997,- €; Quelle: www.statis.de) von 3.083,08 € etwa 5%, 3%, 2% und 1%.

  • 2 Tage Intensivstation 2 x 150,- € -> 300,- €
  • 18 Tage Normalstation 18 x 100,- € -> 1.800,- €
  • 54 Tage REHA 54 x 60,- € -> 4.440,- €
  • 100% GdB bis 31.7.2016 773 x 40,- € -> 30.920,- €
  • 80% GdB ab 1.9.16-24.7.2027 3972 x 32,- € -> 127.104,- €

Insgesamt ergibt dies einen Betrag von 164.564,- €, den der Senat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Hinblick auf vergleichbare Entscheidungen, auf 160.000,- € abrundet.

6. Zulassung der Revision vor dem Bundesgerichtshof hinsichtlich der taggenauen Berechnung

Anlässlich der ersten Entscheidung des OLG Frankfurt zum taggenauen Schmerzensgeld hat das Gericht die Revision nicht zugelassen. Dafür ist es dafür kritisiert worden. Diese Kritik hat das Gericht jetzt angenommen und wegen der abweichenden Entscheidung anderer Obergerichte (Düsseldorf, München und Brandenburg) die Revision zugelassen. Demnächst wird sich also vermutlich der Bundesgerichtshof in Karlsruhe dazu äußern, ob die taggenaue Bemessung des Schmerzensgeldes als Plausibilitätskontrolle zur Schmerzensgeldbemessung angewendet werden darf.

7. Schmerzensgelderhöhung bei Regulierungsverzögerung

Wenn die Schadensregulierung unangemessen hinausgezögert wird, liegt die Vermutung nahe, dass der Geschädigte zermürbt werden soll, um dann eine Abfindung zu akzeptieren, die unterhalb eines kompensionsadäquaten Betrages liegt. Das Opfer wird dann als unbequemer Bittsteller behandelt, obwohl der Haftpflichtversicherer verpflichtet ist, die Schadensregulierung von sich aus zu fördern, sobald die Einstandspflicht bei verständiger lebensnaher Betrachtungsweise erkennbar wird. Bei einer solchen Zermürbungstaktik sind die Gerichte verpflichtet, dem Geschädigten als Genugtuung einen höheren Schmerzensgeldbetrag zuzusprechen, um einem Missbrauch wirtschaftlicher Macht entgegenzuwirken.

Der lange Zeitablauf muss zusätzlich zur Lebensbeeinträchtigung entschädigt werden. Der Haftpflichtversicherer trägt das Risiko seines Regulierungsverhaltens, wenn sich die verfahrensverzögernden Einwände gegen die Schmerzensgeldhöhe als Hinhaltetaktik, kleinlich, demütigend oder bagatellisierend erweisen. Ein uneinsichtiges vorgerichtliches oder prozessuales Verhalten rechtfertigt eine signifikante Erhöhung des immateriellen Schadensersatzes. Das gilt insbesondere dann, wenn sich durch die zögerliche Regulierung der Zustand des psychisch durch die Lebensbeeinträchtigungen ohnehin angeschlagenen Opfers weiter verschlechtert.

Das Oberlandesgericht hat hier auch eine Regulierungsverzögerung und grundlose Verweigerung jeglicher Vorschüsse angenommen, die zu einer angemessenen Erhöhung des immateriellen Ersatzes führen muss. Ganz besonders ist dem Gericht aufgestoßen, dass die Beklagten in der Anschlussberufung trotz der schweren Verletzungen der Klägerin die Reduzierung des Schmerzensgeldes auf 17.500 € beantragt haben.

Das ist in der Tat unverschämt und menschenverachtend. Da muss man sich als Anwalt fremdschämen und sich wundern, unter was für Schriftsätze manche Rechtsanwälte ihre Unterschrift setzen.

8. Kostenverteilung bei unbezifferten Schmerzensgeldantrag

Wer einen Prozess gänzlich gewinnt, kann die entstanden Kosten beim Gegner wiederholen; wer verliert, muss sie dem Sieger erstatten. Meist ist das aber nicht so einfach: Bei einem Vergleich oder einem teilweisen Obsiegen oder Unterliegen werden die Kosten gequotelt. Beispiel: Der Kläger hat 100.000,- Euro eingeklagte, erhält aber nur 75.000,- Euro zugesprochen. Dann werden die Kosten 75:25 Prozent gequotelt. Er kann, weil er zu 25 Prozent verloren hat, nur 75 Prozent der Prozesskosten vom Gegner verlangen.

Die Klägerin muss hier 30 Prozent der Kosten des Rechtsstreits übernehmen; die Beklagte 70 Prozent. Das Gericht hat also der Klägerin weniger Kosten auferlegt, als sich rein rechnerisch ergeben würden. Es hat nicht eingerechnet, dass die Klägerin weniger Schmerzensgeld erhalten hat, als sie sich vorgestellt hat. Das hat das Gericht aber ganz zutreffend durchdacht: die Klägerin hat nämlich die Bemessung des Schmerzensgeldes gänzlich in das Ermessen des Gerichts gestellt, ohne dass sie eine Mindestantrag gestellt hätte. Deshalb hat sie sozusagen alles bekommen, was sie wollte und gerade nicht teilweise verloren.

Das Problem ist: als spezialisierter Fachanwalt kann man zu dieser Taktik eigentlich nicht raten, außer es fehlt an einer Rechtsschutzversicherung. Aber man hat bei dieser Taktik das Risiko, dann vom Landgericht zum Oberlandesgericht vielleicht nicht einmal in die Berufung gehen kann, weil es an einer Beschwer fehlt: wenn man keinen Mindestbetrag angibt, kann man quasi auch gar nicht verlieren und kann dann dagegen auch nicht weiter angehen, wenn das Schmerzensgeld zu knapp ausfällt.

9. Stellungnahme der Schmerzensgeld-Spezialisten:

„Wir haben für unsere Homepage auch eine eigene, sehr brauchbare und umfangreiche Schmerzensgeldtabelle für Personengroßschäden erstellt, die Sie sich ansehen und Schmerzensgeld berechnen (überschlagen) können. Wir halten zum Schmerzensgeld und auch allen anderen Schadensposten Erklärvideos auf unserer Homepage für Sie bereit“, sagen Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Dr. Lovis Wambach und Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Rouven Walter.

Das vollständige Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 4.6.2020 Az.: 22 U 34/19 können Sie hier als PDF-Datei (64 KB) herunterladen:

OLG Frankfurt – Az.: 22 U 34/19 – Urteil vom 04.06.2020

10. Weiterführende Hinweise zum Schmerzensgeld:

Wir sind Spezialisten für Schmerzensgeld, also Schmerzensgeldspezialisten. Wir halten auf unserer Homepage jede Menge Informationen zum Schmerzensgeld bereit:

Über die Höhe von Schmerzensgeldern können Sie sich in unserer Schmerzensgeldtabelle informieren:

Schmerzensgeldtabelle

Die Schmerzensgeldbemessung ist auch Thema eines unserer Erklärvideos:

Schmerzensgeld – wie viel erhalte ich?

Indem wir 70 Fragen beantworten, geben wir einen umfassenden Überblick über das ganze Thema Schmerzensgeld:

70 Fragen und Antworten zum Schmerzensgeld

Sehr wichtig zum Verständnis der Schmerzensgeldbemessung ist, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Lebensbeeinträchtigungen bei allen für die Schmerzensgeldbemessung wichtigen Umständen immer an der Spitze stehen muss. Wir haben deshalb die wichtigsten Lebensbeeinträchtigungen für unsere Homepage zusammengefasst, mit Beispielen aus der Rechtsprechung:

Schmerzensgeld und Lebensbeeinträchtigungen

Die absolut grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Bemessung des Schmerzensgeldes aus dem Jahre 1955 finden Sie hier als PDF zum Download:

BGH, Beschluss vom 06.07.1955 – GS 1/55.

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