OLG Köln, Urteil vom 11.06.2015 – 8 U 54/14: Schmerzensgeld wegen Querschnittlähmung bei Mitverschulden wegen Verstoßes gegen die Gurtpflicht
Der siebzehnjährige Kläger lag auf der Rückbank des PKW und schlief, als der Fahrer infolge seines Alkoholkonsums (2,71 Promille) nachts von der Autobahn abkam und der Wagen sich überschlug. Der nicht angegurtete Kläger ist aus dem Fahrzeug geschleudert worden. Er erlitt eine Halswirbelluxation (Halswirbelverrenkung), eine Lungenkontusion (Lungenquetschung), eine Wirbelfraktur (Wirbelbruch), eine Rippenserienfraktur (mindestens drei gebrochene Rippen in Folge) und eine Harnblasenlähmung bei Schädigung des oberen motorischen Neurons (Die Blase zieht sich bei dieser Verletzung unkontrolliert zusammen, was zu spontanen Ausscheidungen von Urin führt. Die Meldung, dass die Blase voll ist, gelangt zwar noch zum Rückenmark, aber das Gehirn hat seine Befehlsgewalt über diese Region verloren, so dass die Meldung im Rückenmark lediglich als Reflex umgesetzt wird). Er ist querschnittsgelähmt mit vollständiger Lähmung beider Beine und hochgradiger, handbetonter rechtsseitig mehr als linksseitig ausgeprägter Lähmung beider Arme, wobei er vor dem Unfall Rechtshänder war, so dass die Lebensbeeinträchtigungen noch schwerwiegender sind.
Das Oberlandesgericht hat sich der Einschätzung des Landgerichts angeschlossen, dass auch bei einem anzunehmenden Mitverschulden ein Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 160.000 Euro angemessen sein kann, wenn einem Menschen in jungen Jahren die gesamte Lebensperspektive genommen wird.
Wenn man die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes beim Wort nimmt, ist das natürlich viel zu wenig. Lieber würde man doch das ganze Leben von Hartz IV leben, als nicht mehr laufen zu können und bei Inkontinenz auf Hilfe und Pflege anderer angewiesen zu sein. Nicht einmal 1.000.000,- Euro würden zum Ausgleich dieser schwerwiegenden Lebensbeeinträchtigungen ausreichen. Das aber ist ein grundsätzliches Problem der viel zu niedrigen Schmerzensgelder in Deutschland.
Landgericht und Oberlandesgericht haben den Anspruch des Klägers um 25% gekürzt, also auch den Schmerzensgeldanspruch.
Es ist gesetzlich vorgeschrieben, sich anzuschnallen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sagt: Der Nutzen moderner Sicherheitsgurte überwiegt derart gegenüber denkbaren Nachteilen, dass ein einsichtiger und verantwortungsbewusster Kraftfahrer nur dann verkehrsrichtig handelt, wenn er sich anschnallt. Ein Verstoß gegen die Anschnallpflicht führt zu einer Anspruchskürzung, einer Quotelung. Die Höhe der Kürzung des verbleibenden Anspruchs hängt davon ab, inwieweit sich die Verletzung der Anschnallpflicht auf die Schwere der Verletzungen ausgewirkt hat.
Der Bundesgerichts hat zu diesem Problem ausgeführt: In solchen Fällen ist grundsätzlich zu beachten, dass das Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes sich je nach der Art des Unfalls und der dabei erlittenen Verletzungen nicht stets in gleicher Weise auswirkt; die Ursächlichkeit dieses Versäumnisses kann selbst innerhalb desselben Unfallgeschehens für das Ausmaß der eingetretenen Schäden verschieden sein. Trotzdem wird dann am Schluss aus Gründen der praktischen Handhabung eine Gesamtquote gebildet.
Die obergerichtliche Rechtsprechung (die Oberlandesgerichte) nimmt bei Verletzung der Anschnallpflicht einen Mitverschuldensanteil von 25 bis 50 Prozent an. Die Mitverschuldensanteile sind unterschiedlich, weil es stets auf die Abwägung der einzelnen Umstände des zu entscheidenden Falles ankommt. Die hier angenommenen 25 Prozent liegen zwar im unteren Bereich, das einschneidende Problem aber ist:
„Dem Kläger wird nicht nur der Schmerzensgeldbetrag von 200.000,- Euro auf 160.000,- gekürzt. Die Kürzung bezieht sich auf alle Schadensposten für alle Zeit, also auch auf den Erwerbsschaden, die Pflegekosten, den Haushaltsführungsschaden, den Rentenschaden, die Vermehrten Bedürfnisse“, sagt Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Rouven Walter, „es geht dabei also um richtig viel Geld, um Millionen!“
An dieser Baustelle hätte man deshalb vielleicht mit einem Gang nach Karlsruhe weiterkämpfen sollen. Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung, die durchaus einen ähnlichen Sachverhalt betraf, entschieden, dass es bei der Haftungsverteilung entscheidend darauf ankommt, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Die unter diesen Gesichtspunkten vorzunehmende Abwägung kann in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss. In dem Fall war der Schädiger nachts betrunken auf die Gegenfahrbahn geraten und hatte das Auto gerammt, in dem der Geschädigte unangeschnallt auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, also durchaus ein vergleichbares Geschehen. Der Bundesgerichtshof hat den Erwägungen des Oberlandesgerichts zugestimmt, dass die Gefahr, die von einem mit voller Geschwindigkeit bei Dunkelheit auf der Gegenfahrbahn fahrenden Kraftfahrzeug ausgeht, ungewöhnlich hoch ist. Zu dieser außerordentlich hohen Gefahr trat in diesem Einzelfall das nach Ansicht der Gerichte gleichfalls als außergewöhnlich hoch zu bewertende Verschulden des Fahrers, der sich mit einer Blutalkoholkonzentration von (etwa) 1,83 Promille mit seinem Fahrzeug in den Verkehr begeben hatte. Gegenüber dem Gewicht dieser Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Schädigers konnte nach Ansicht des Bundesgerichtshofs das Oberlandesgerichts den Unfallbeitrag des Geschädigten trotz des Verstoßes gegen die Pflicht zur Anlegung eines Gurtes ohne Rechtsfehler als vergleichsweise gering einstufen und bei der Abwägung des Mitverschuldens nicht berücksichtigen und eine Haftung zu 100 Prozent annehmen.
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OLG Köln, Urteil vom 11.06.2015 – 8 U 54/14
Das vollständige Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.01.1998 können Sie hier als PDF (88 KB) herunterladen: